Rassismus, Zwangsmigration und Holocaust. Die deutschsprachige Exilliteratur und ihr Umfeld
Gegenwärtig ist eine Darstellung zum oben genannten Thema in Vorbereitung. In ca. vierwöchigen Abständen werde ich jeweils ein Kapitel veröffentlichen, beginnend im Mai 2010.
Teil I: 1933 - 1938
0. Vorspann: Programm, politische Ausgangssituation 1933, erste autobiografische Rückschau
Das Untersuchungsfeld – Inkohärenzen und Brüche
Die deutschsprachige Literatur im 20. Jahrhundert wird von einem zentralen Geschehen dominiert: den Auswirkungen der nationalsozialistischen Verfolgungs- und Vernichtungspolitik.
Die Aufhebung des Rechtsstaates
Die Maßnahmen des NS-Regimes in der ersten Jahreshälfte 1933: die Aufhebung des Rechtsstaates und die Verfolgung der politischen Opposition, die Flucht- und Verhaftungswelle im Zuge des Reichstagsbrands, die Bücherverbrennungen vom 10. Mai und die Errichtung eines innerdeutschen Kulturghettos, verändern das literarische System der deutschsprachigen Literatur grundlegend. Das Resultat sind weitgehend voneinander getrennte Bereiche: die innerdeutsche, unter der Ägide des NS-Staates sich entwickelnde Literatur, die Exilliteratur und die öffentliche wie private "jüdische" Literatur.
Autobiografische Rückschau 1939/40
In diesem Abschnitt wird über Sebastian Haffners Geschichte eines Deutschen gesprochen wowie über drei Text des Harvard-Preisausschreibens: das Tagebuch von Hertha Nathorff, Karl Löwiths Mein Leben in Deutschland und Eva Wysbars "Hinaus aus Deutschland, irgendwohin".
1. Deutschland 1933: Flucht, Verlagssystem im Exil, differierende Positionen
Erste "Säuberungen", die Bücherverbrennungen, die Flucht ins Exil und der Aufbau eines Verlagssystems
Ausgehend von der "Neuordnung" der Akademie der Künste und den Bücherverbrennungen am 10. Mai 1933 wird die Reaktion der Leitung des Gustav-Kiepenheuer-Verlages (Landshoff, Landauer, Kesten) und das Entsetehen der beiden bedeutendsten Exilverlage, des Querido- und des Allert de Lange Verlages, thematisiert.
Briefe von Ricarda Huch, Stefan Pollatschek, Klaus Mann u.a.
Gegen die aus politischen und rassenideologischen Gründen erfolgten Eingriffe in das kulturelle System erhob sich durchaus Protest. Beispiele sind die Stellungnahmen von Ricarda Huch, Stefan Pollatschek und Bronislaw Hubermann.
Ein Brief von Fritz (Perez) Naphtali an Paul Hertz
Fritz Naphtali, der ehemalige Leiter der Forschungsstelle für Wirtschaftspolitik des ADGB, rechnet in einem Brief an Paul Hertz mit den antisemitischen Formen politischer Anpassung von Teilen des Parteivorstands der SPD und der Gewerkschaftsführung ab.
2. Frühe literarische Reaktionen des Exils
Die Emanzipation und ihre Revokation
Es werden zwei Bücher behandelt, mit denen der Querido Verlag seine Produktion eröffnet: Lion Feuchtwangers Die Geschwister Oppermann und Ernst Tollers Eine Jugend in Deutschland.
Literarische Artistik mit politisch-analytischer Zielsetzung - Joseph Roth: "Tarabas"
Zu den frühen, im Querido Verlag erscheinenden Romanen gehört Joseph Roths "Tarabas". Der Roman ist als "Heiligenlegende" konzipiert. In der erzähltechnischen Artistik virtuos, von Flaubert inspiriert, wird die Darstellung eines Pogroms in einer galizischen Kleinstadt mit Anspielungen auf die Entwicklung des Antisemitismus in Deutschland nach 1933 verknüpft. Das Ziel des Autors ist es, die christliche Religion als Antidot gegen die NS-Ideologie zu aktivieren.
Artistik und Analyse - Die Darstellung der Bartholomäusnacht in Heinrich manns "Die Jugend des Königs Henri Quatre"
Heinrich Mann stellt in dem Roman Die Jugend des Königs Henri Quatre mit eigentümlicher artistischer Verfremdung einen Pogrom dar. An den Ausschreitungen, dem Morden und Rauben beteiligt sich jedoch nicht nur der "Pöbel", sondern auch das "anständige Bürgertum". Die Ausschreitungen vollziehen sich in "geordneten Bahnen". Mit erstaunlicher prognostischer Schärfe entwickelt Heinrich Mann ein Bild der Abläufe, die sich 1938 in Deutschland vollziehen werden.
Das Menetekel - Valeriu Marcu: "Die Vertreibung der Juden aus Spanien"
Valeriu Marcu, aufgrund seines politischen Werdegangs und seiner schriftstellerischen Begabung eine faszinierende Erscheinung, konfrontiert das Exil mit einer erschreckenden, beunruhigenden
geschichtlichen Parallele: der Vertreibung der spanischen Juden.
3. Die Entstehung eines innerdeutschen Kulturghettos
Jüdische Verlage und jüdische Autoren im Dritten Reich
In diesem Kapitel wird dargestellt, wie die in Deutschland verbliebenen jüdischen Verlage allmählich in eine Ghetto-Position gedrängt werden. Es werden die Kontroversen, die das Agieren des S. Fischer Verlages auslöst, kurz gestreift.
Die Ghettoisierung der jüdischen Literatur
Mit dem Ausschluss jüdischer Autoren und Intellektueller aus dem literarischen Leben endet die legendäre deutsch-jüdische "Symbiose". Am Beispiel zweier jüdischer Autoren: Karl Wolfskehls und Soma Morgensterns, wird gezeigt, dass für die Betroffenen gleichsam programmatisch eine 'jüdische' Thematik ins Zentrum rückt.
4. Die Aufgabe des Schriftstellers im Exil: Schweigen oder öffentliche Anklage?
Divergierende Strategien: Publizieren in Deutschland, vom Exil aus Anklage erheben - oder schweigen?
Es werden die Positionen von Kurt Tucholsky und Karl Kraus beschrieben. Tucholsky entschließt sich konsequent zu "schweigen"; Kraus konzipiert eine Anklage, Die dritte Walpurgisnacht. entschließt sich jedoch, diesen Text nicht zu publizieren, also ebenfalls zu "schweigen".
Gegenöffentlichkeit mit Hilfe der Literatur - die Vorkriegsphase (1933 - 1938)
Das Exil versuchte, mit publizistischen Maßnahmen eine "Gegenöffentlichkeit" herzustellen. Es werden die damit verbundenen Probleme und Konflikte, vor allem aber zwei repräsentative Texte: das Braunbuch über Reichstagsbrand und Hitlerterror und das Schwarzbuch, thematisiert.
"Schutzhaft"
Das zentrale Repressionsinstrument in der Frühphase der Diktatur war die "Schutzhaft". Speziell thematisiert wird Stefan Lorants Bericht I was Hitler's Prisoner, Gerhart Segers Oranienburg und Karl August Wittfogels Staatliches Konzentrationslager VII.
Widerstand und Verfolgung in Berlin 1933/34
In Berlin, in der Illegalität, schreibt Jan Petersen einen Bericht über den Widerstandskampf einer vorwiegend von Kommunisten bewohnten Berliner Straße, der Wallstraße. Sein Text wurde vermutlich von Anna Seghers bearbeitet.
Die Stigmatisierung der jüdischen Bevölkerung
Am Beispiel von Walter Mehrings Moritat "Die Sage vom großen Krebs", Friedrich Wolfs Drama Professor Mamlock und Ferdinand Bruckners Drama Die Rassen wird die literarische Darstellung der Judenpolitik in der Anfangsphase des Exils thematisiert.
Brechts Sammlung "Gedichte Lieder Chöre"
Die Sammlung Gedichte Lieder Chöre (Bertolt Brecht - Hanns Eisler) ist ein katechetischer Text: eine artistisch gestaltete (säkuläre) Besinnungs- und Unterweisungsschrift. In einer kritischen Situation - die KPD hat eine schwere Niederlage erllitten, Teile der Parteiführung und der Mitgliedschaft mussten ins Exil fliehen, andere in die Illegalität abtauchen - muss die Autorität der Partei wiederhergestellt werden: durch Rückbesinnung auf die zentralen Funktionen der Partei und auf den politischen Kampf, den die Arbeiterschaft seit 1918 geführt hat.
Protest gegen das Verhalten des S. Fischer Verlags
Der Dramatiker Ferdinand Bruckner (Die Rassen) decouvriert in einem Brief an Gottfried Bermann Fischer den Opportunismus des S. Fischer Verlags.
Das Pariser Exil im kritischen Blick Rudolf Oldens
Im Frühjahr 1934 beschreiben Rudolf und Ika Olden unter dem Titel In tiefem Dunkel liegt Deutschland die Kolonie deutscher Emigranten in Paris. Rudolf Olden war Verteidiger Carl von Ossietzkys im Weltbühnen-Prozess, stellvertretender Chefredakteur des Berliner Tageblatts und - im Exil - Autor des Schwarzbuchs Die Lage der Juden in Deutschland 1933.
5. Die innerdeutsche Situation 1933 – 1934
Differente Lebenswelten - der Alltag im nationalsozialistischen Deutschland: Willy Cohn/Victor Klemperer: Tagebücher 1933/34
Recht und Rechtswirklichkeit im nationalsozialistischen Staat - Ernst Fraenkel: "Der Doppelstaat"
Ernst Fraenkel, bis 1938 als Rechtsanwalt in Berlin tätig und Mitglied einer Widerstandsgruppe, des ISK, analysiert in seiner Studie Der Doppelstaat den rechtlichen Zustand des ‚zivilen Ausnahmezustandes“, der im Dritten Reich besteht.
6. Strategien und Konfliktlinien des Exils 1933 – 1937
Polemik gegen die bürgerlichen Autoren (1933 - 1935)
Bereits im Herbst 1933 entbrannte ein heftiger Kampf um die politische Meinungsführerschaft innerhalb des Exils. Da die Schriftsteller, anders als die politischen Parteien, keineswegs ihre politische Glaubwürdigkeit verloren hatten, galt es von Seiten der KPD, prominente Autoren teils zu diskreditieren, teils sie durch anbiedernde Kritik auf die eigene Seite zu ziehen.
Die Notwendigkeit solidarischen Verhaltens - Joseph Roths Briefe an Stefan Zweig 1933
Solidarisches Verhalten ist für politisch agierende Gruppen eine nahezu unabdingbare Voraussetzung, um sich gegenüber konkurrierenden bzw. gegnerischen Organisationen durch nach außen dokumentierte Geschlossenheit behaupten zu können. Die Basis der Solidarität ist in der Regel die gemeinsame Interessenlage, desweiteren die Bindung an gemeinsame Wertvorstellungen. Joseph Roth bemüht sich zwischen Februar und November 1933 verzweifelt, mit Blick auf den gemeinsamen politischen Gegner, das Dritte Reich, seinen Freund Stefan Zweig von der Notwendigkeit solidarischen Verhaltens zu überzeugen.
Gegenbilder zum Dritten Reich
Polemik ist ein Instrument der Selbstverteidigung. Zwei Romane stehen im Zentrum: Klaus Manns Mephisto und Oskar Maria Grafs Anton Sittinger.
Ein politischer Sieg durch koordiniertes Agieren - Die Nobelpreiskampagne für Carl von Ossietzky
Allen Versuchen, der Indolenz der europäischen Öffentlichkeit gegenüber Terror und Kriegsgefahr durch ein einheitliches, überzeugendes Vorgehen entgegenzutreten, stehen die Rivalität der um den Führungsanspruch konkurrierenden Exilparteien und die Egoismen einzelner Prominenter im Wege. Eine politisch einheitliche Linie fehlt. Wie dagegen politisches Agieren, um zum Erfolg zu führen, hätte aussehen müssen, zeigt in exemplarischer Form die Kampagne um die Befreiung Carl von Ossietzkys aus der KZ-Haft.
7. Die innerdeutsche Situation 1933/34 - 1937
Die jüdische Bevölkerungsgruppe 1933/34 - 1937
Durch Diskreditierung und Diskriminierung wurde die jüdische Bevölkerungsgruppe zurück in den Status einer Minorität versetzt. Sie bildete von nun an politisch-organisatorisch, sozial und kulturell eine durch Gesetze und Verordnungen separierte Gruppe innerhalb der Gesamtgesellschaft. Die literarisch-kulturelle Elite der jüdischen Gruppe befand sich inzwischen im Exil. Dieser Verlust traf das Selbstgefühl der Gruppe an zentraler Stelle. Die Folgen waren Orientierungs- und Identitätsprobleme, die durch den Abbruch der sozialen und kulturellen Interaktion mit der Mehrheitsgesellschaft verstärkt wurden.
Bertolt Brecht: "Die jüdische Frau"
„Die Lüge wird zur Weltordnung gemacht.“ So kommentiert Walter Benjamin Brechts Furcht und Elend des Dritten Reiches. Brecht reagiert auf diese Herausforderung als Avantgardist: durch die Darstellung der Lebensverhältnisse im Dritten Reich mit den Instrumenten einer „Gestentafel“. In der Szene Die jüdische Frau wird die Situation eines Ehepaars beschrieben, das in einer „Mischehe“ lebt.
Diskriminierung und soziale Isolation - Die Briefe der Ärztin Dr. Lilli Jahn (1933 - 1935)
8. Das politische Exil in der Krise
Illusion und Bedeutung des "Antifaschismus"
Kritische, nonkonformistische Urteile, wie sie Joseph Roths in dem Aufsatz „Die vertriebene deutsche Literatur“ formuliert, sind in der Exilliteratur selten. Ausgehend von den Folgen, die die Niederlage bei der Saarabstimmung im Januar 1935 hat, und mit Blick auf zwei spektakuläre Ereignisse: den Ersten Allunionskongress der Sowjetschriftsteller (Moskau 1934) und den Ersten Internationalen Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur in Paris (1935), wird versucht, den Hintergrund von Roths Kritik zu erhellen.
Krise und Desillusionierung
Während das politische Exil sich im Rahmen einer „Einheitsfront“ bzw. „Volksfront“ um ein gemeinsames Agieren bemüht, werden zunehmend antagonistische Kräfte erkennbar. Am Beispiel der Pariser Tageblatt-Affäre, der Rezeption von Gides Retour de l’USSR und von Feuchtwangers Moskau 1937 wird erkennbar, auf welcher Ebene die Widersprüche liegen.
Das Protokoll einer "geschlossenen Parteiversammlung" in Moskau
Das Wortprotokoll einer sog. „geschlossenen Parteiversammlung“ der „deutschen Kommission“ des sowjetischen Schriftstellerverbandes vermittelt einen Eindruck vom Klima, das in Moskau während der Zeit der „Säuberungen“ herrschte. Es handelte sich um eine Veranstaltung, die in unmittelbar zeitlicher Nähe zum 1. Moskauer Prozess, dem Prozess gegen das „trotzkistisch-sinowjewistische terroristische Zentrum“ (19. bis 24. August 1936), stattfand und die sich über vier Tage – vom 4. bis zum 8. September, jeweils vom Spätnachmittag bis in die frühen Morgenstunden des nachfolgenden Tages – erstreckte.
9. Moskau - Theoriediskussion
Die Denunziation der Avantgarde: "Realismus"-Postulat, "Erbe"-Diskussion und "Expressionismus"-Debatte
Die „Expressionismus“-Debatte der Jahre 1937/38 ist eine Variante der innersowjetischen Auseinandersetzungen um die „linken“ avantgardistischen Strömungen in der Kunst: LEF und Litfront, das Theater Meyerholds, die Musik Schostakowitschs oder – in der Malerei – den Suprematismus. Es wird ein komplexes Theoriesystem entwickelt, unterlegt mit einem politisch-historischen Rückblick auf die „expressionistische Generation“ und ihre Rolle während der Endphase des 1. Weltkriegs und der Novemberrevolution („USPD“-Ideologie), das im Endeffekt einzig dem Zweck dient, die „Moderne“ in ihren unterschiedlichen Erscheinungsformen zu verdammen und den „Sozialistischen Realismus“ als Norm zu etablieren. Die Schriftsteller werden dem Primat der Partei unterstellt. – Die Antagonisten sind in dieser Auseinandersetzung Ernst Bloch und Georg Lukács.
"Aufkläricht" - Ernst Blochs Polemik gegen den Vulgärmarxismus
Mit Erbschaft dieser Zeit wird – witzig, polemisch und sprachlich virtuos – die Autorität von Georg Lukács und seiner Konzeption des „Erbes“ in Frage gestellt. Ernst Bloch wirft den Moskauer Theoretikern vor, dem Gegner: also den Nationalsozialisten und ihren Helfern aus dem Großkapital, zu viel Terrain überlassen zu haben, indem sie geschichtsphilosophisch zu abstrakt und nicht „am Gegenstand“ argumentiert hätten. In seiner Argumentation greift er zurück auf die Debatte, die 1932 in der Linkskurve über „Reportage oder Gestaltung“ geführt wurde.
Bloch/Eisler: "Die Kunst zu erben" - Anna Seghers: Briefwechsel mit Georg Lukács
Die Expressionismus-Debatte animiert Ernst Bloch und Hanns Eisler zu zwei ebenso geistreichen wie witzigen Repliken. Insgesamt verstärkt die Expressionismus-Debatte die negative Stimmung im Pariser Exil, die eine Folge der Moskauer Prozesse ist. Anna Seghers schließt sich der Kritik an Lukács teilweise an - offensichtlich, damit die KPD bei der künstlerischen und publizistischen „Avantgarde“ ein Minimum an Respekt behält.
10. Emigration nach Palästina
"Erez Israel" - Das "gelobte Land"
Die deutschen Juden verstanden sich zum Zeitpunkt ihrer Einwanderung emotional wie kulturell sehr stark als „Deutsche“. Die deutsche Kultur: Theater, Literatur, Musik, Philosophie, waren zentrale Medien der Akkulturation gewesen. Das galt für Zionisten wie für säkular orientierte Juden. Der Aufbau von „Erez Israel“ war jedoch ein ostjüdisches Projekt. Hinzu kam vor allem in der Anfangsphase der Druck zur sozialen, beruflichen und vor allem zur sprachlichen Anpassung („Sprechen Sie Iwrith!“). Die Konflikte zwischen dem „Jishuw“ und den „Jeckes“ waren folglich gravierend.
Berichte über die Siedlungstätigkeit in Palästina
Auf den ersten Blick bestehen zwischen Gabriele Tergits Palästina-Reportagen Im Schnellzug nach Haifa und Erich Gottgetreus Werbeschrift Das Land der Söhne. Palästina nahe gerückt kaum Gemeinsamkeiten. Bei näherer Betrachtung wird jedoch deutlich, dass beide – allerdings auf unterschiedliche Weise – durchaus auf dieselben Schwierigkeiten hinweisen: auf die Heterogenität in der Struktur der Einwanderung, auf die Probleme, unter Beibehaltung der bislang ausgeübten Berufe Fuß zu fassen, vor allem aber auf die dominante Rolle, die in diesem Land der Politik zukommt.
Die Palästina-Auswanderung: zwei Tagebuch-Berichte und die Briefe eines Jugendlichen an seine noch in Deutschland lebenden Eltern
Die Tagebücher von Martin Hauser und Willy Cohn sowie die Korrespondenz von Ernst Loewy mit seinen Eltern zeichnen drei sehr unterschiedliche Bilder von der Lebenswirklichkeit in Palästina. Das Erscheinungsbild von „Erez Israel“ ist stark vom Befinden der Autoren bestimmt: Martin Hauser ist ein mittelloser junger Flüchtling, der sich hier auf eigene Faust durchschlagen muss; Willy Cohn, überzeugter Zionist wie Hauser, besucht Palästina zusammen mit seiner Frau, um sich ein Bild vom jüdischen „Aufbau“ zu verschaffen; Ernst Loewy ist mit einer Jugendgruppe in einen Kibbuz gekommen.
11. Die Heterogenität der Emigration
Die Problematik unangemessener Abgrenzungen und Ausgrenzungen
Die Typologie der Exilforschung spricht vom politischen, jüdischen und vom kulturellen Exil. Sie folgt darüber hinaus einem System von Kategorisierungen, in welchem die „erzwungene“ der „freiwilligen“ Emigration gegenübergestellt wird. Diese Dichotomie verzerrt den Blick auf das „jüdische Exil“. An verschiedenen Beispielen: der Biografie des jüdischen Emigranten Joseph Rovan, einer Rede von Georg Bernhard, Tagebuchnotizen von Alfred Kantorowicz und an zwei literarischen Texten wird versucht, die prägende Kraft dieser historisch wie sachlich inadäquaten Typologie aufzuzeigen.
Der Blick eines in Galizien geborenen Autors auf das Leben der Ostjuden in Deutschland - H. W. Katz: "Schloßgasse 21"
In dem Roman Schloßgasse 21 beschreibt H. W. Katz das Leben einer aus Galizien stammenden, während des Weltkriegs in eine deutsche Kleinstadt geflohenen Familie. Eine Integration in die Gemeinschaft der „deutschen Juden“ findet nicht statt; im Gegenteil, man steht als Bittsteller am Rande der Gesellschaft. Während sich die Kinder jedoch schnell an die veränderte Situation anpassen, fällt ihren Eltern die Umstellung schwer.
Die Biografie eines aus Galizien stammenden Emigranten - Alexander Granach: "Da geht ein Mensch"
In einem literarischen Konstrukt, das - sprachlich virtuos präsentiert - durch Widersprüchlichkeit fasziniert und zugleich überzeugt, schildert Alexander Granach, Exilant und einer der prominentesten Schauspieler der Weimarer Republik, seinen Lebensweg und vermittelt damit auch ein Bild vom Leben einer jüdischen Familie in einem galizischen Dorf, seinem Geburtsort.
12. Identitätssuche unter den jüdischen Emigranten
Kap. 14: Konfrontiert mit dem Nationalsozialismus: Was ist "jüdische Identität"?
Die Zuschreibung einer besonderen „jüdischen Identität“, die seitens des Nationalsozialismus durch politische wie durch rechtliche Maßnahmen vollzogen wurde, löste bei der jüdischen Bevölkerungsgruppe eine starke Verunsicherung aus. Waren sie weiterhin „Deutsche“, wenngleich mit geminderten staats-bürgerlichen Rechten, „jüdische Deutsche“ oder ausschließlich „Juden“? Hier wurden in juristisch nur schwer fassbarer Form Fragen des Staatsbürgerrechts, der Religion, vor allem aber der Politik miteinander vermischt. Die Folge war eine weitgehende Desorientierung.
Dissidente Stimmen: Walter Tschuppik, Oskar Singer, Alfred Döblin, Emil Ludwig
Tschuppik, Singer, Döblin und Ludwig stimmen darin überein, dass der Nationalsozialismus den Weltfrieden und das jüdische Volk bedroht. Sie sind davon überzeugt, dass aktiver Widerstand in dieser Situation unerlässlich ist. Tschuppik und Singer formulieren diese Auffassung auf der Basis säkularer Überzeugungen: der Ideen der Französischen Revolution; Döblin auf spirituell-religiöser Basis: Er stellt die Idee einer "nationalen Heimstatt für die Juden" ins Zentrum. Emil Ludwig geht so weit, dass er Verständnis für ein politisch motiviertes Attentat entwickelt.
13. Literarische Entwicklung I
Anfang 1936 kommt es im Rahmen einer Auseinandersetzung zwischen Leopold Schwarzschild und Eduard Korrodi, dem Feuilletonredakteur der Neuen Zürcher Zeitung, zu einer erbitterten Kontroverse über den Status und die Bedeutung der Exilliteratur im Rahmen des Gesamtbereichs der zeitgenössischen deutsch-sprachigen Literatur. Auslösendes Moment sind Informationen über die Absicht Gottfried Bermann-Fischers, den S. Fischer Verlag in die Schweiz zu verlagern. In den Streit schaltet sich auch Thomas Mann ein. Die Kontroverse deckt Aporien in der Beurteilung der Exilliteratur auf – und zwar bei allen Beteiligten. Sie endet damit, dass Thomas Mann sich eindeutig vom nationalsozialistischen Deutschland distanziert und begründet, weshalb er 1933 Deutschland verlassen hat.
Ernst Weiß: "Der arme Verschwender"
Mit dem Roman Der arme Verschwender, einem Werk, von dem der Leser nicht weiß, ob es sich um einen analytischen Roman oder um ein artistisches Vexierbild handelt, entfaltet Ernst Weiß ein brillantes Spiel mit den Erscheinungsformen einer Gesellschaft, die sich in einer tiefen Krise befindet. 1936, im Erscheinungsjahr des Romans, ist dies ein Thema von höchster Aktualität.
Alexander M. Frey: "Hölle und Himmel"
Der Name Alexander M. Freys fällt immer wieder, wenn im Exil von wenig bekannten, aber exzellenten Autoren die Rede ist. Trotzdem besaß Frey keine Publikationschancen. Sein Roman Hölle und Himmel erschien erst 1945 – nach Ende des Dritten Reichs. Der Roman handelt von einer Gruppe recht skurriler Personen und ihrem ebenso skurrilen Tun. – Hölle und Himmel ist ein Werk der phantastischen Literatur. Im Mittelpunkt steht ein Bild im Stile von Hieronymus Bosch: eine „Versuchung des heiligen Antonius“. Das Bild ist ein „Spiegel der Welt“, eine Vision der Apokalypse. Diese Apokalypse besitzt reale Gestalt, denn die Topografie des Ortes, an dem die Handlung spielt, nimmt Bezug auf Salzburg – und gegenüber, auf der anderen Seite der Grenze, befindet sich der Berghof Adolf Hitlers.
Alice Rühle-Gerstel: "Der Umbruch oder Hanna und die Freiheit"
In einem kompositorisch minutiös austarierten Konstrukt von Selbstreflexion, Beobachtung und sarkastischer Kritik zeichnet die Individualpsychologin, Frauenrechtlerin und Linkssozialistin Alice Rühle-Gerstel ein sarkastisches Bild des politischen Exils der Jahre 1934 bis 1936 in Prag sowie der Probleme einer kommunistischen Intellektuellen, die in ihre Geburtsstadt zurückkehrt, die ihr vertraut und fremd zugleich ist, während zu gleicher Zeit ihr Ehemann in Deutschland eine Zuchthausstrafe wegen Widerstandsarbeit für die KPD verbüßt.
14. Politische Krise u. Ausweitung des Konfliktfeldes: 1936 - 38
"Aufforderung zum Risiko": Mit einem Artikel unter dieser Überschrift reagiert Leopold Schwarzschild im März 1935 auf die immer bedrohlichere Aufrüstung des Dritten Reichs. Adäquate Reaktionen der deutschen Nachbarstaaten bleiben jedoch aus. Die Kontroverse über die Moskauer Prozesse beginnt die Diskussionen des Exils zu beherrschen. Zeitweilig werden die Konflikte durch die "Volksfront"- Verhandlungen überdeckt. Die gesamtpolitische Entwicklung, speziell der Verlauf des Spanischen Bürgerkriegs, führt jedoch zum Zusam- menbruch der Bemühungen. Die Phase endet mit einem in seinem Umfang kaum zu ermessenden Verlust an Glaubwürdigkeit des politischen Exils. Indirekt davon betroffen ist auch das Renommee der Exilliteratur.
Der Spanische Bürgerkrieg im Spiegel der Literatur I
Der Spanische Bürgerkrieg hat sich mit Bildern, Berichten, nicht zuletzt mit künstlerischen Texten tief in das kollektive Bewusstsein der nachfolgenden Epoche eingeschrieben. Die spezielle Faszination geht von den Gegensätzen aus, die der Bürgerkrieg umschließt: katholische Religiosität, mediterrane Spontaneität, schier unbegrenzte Opferbereitschaft, anarchistischen Enthusiasmus, schrankenlose Zerstörungswut, unvorstellbare Grausamkeit. Am Beispiel unterschiedlicher Texte: Auszügen aus dem Tagebuch der Fotografen Hans Namuth und Georg Reisner, zweier Gedichte des kommunistischen Lyrikers Erich Arendt und an Gustav Reglers Roman Das große Beispiel wird dieses Faktum veranschaulicht.
Der Spanische Bürgerkrieg im Spiegel der Literatur II
Der Luftangriff der Legion Condor auf die spanische Stadt Guernica ist der erste militärische Angriff auf ein ziviles Ziel in der modernen Kriegsgeschichte. Diese Art des Agierens wurde im Zweiten Weltkrieg konsequent weitergeführt. Hermann Kestens Roman Die Kinder von Gernika und Ödön von Horváths Roman Ein Kind unserer Zeit sind – aufgrund der Perspektivik und der künstlerischen Form – sehr unterschiedliche Reaktionen auf diese neue, verbrecherische Form der Kriegsführung.
Abrechnung mit Moskau - Arthur Koestler: "Sonnenfinsternis"
Man kann Arthur Koestlers Sonnenfinsternis als politischen Roman, psychologischen Roman oder als Kriminalroman lesen – im Kern ist es ein Text über das Problem der politischen Moral. – Ausgangspunkt der Romananalyse ist das Schreiben, mit dem Koestler im April 1938 seinen Austritt aus der KPD begründet.
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Teil II: 1938 - 1948
1. Die innerdeutsche Situation 1937 - 1938 im Spiegel unterschiedlicher Texte
Thomas Manns Brief an die Universität Bonn (Jan. 1937)
1937/38 vermehren sich die Anzeichen, dass die Meinungsführerschaft innerhalb des politischen Exils Schritt für Schritt auf konservativere Autoren übergeht. Ein deutliches Symptom dieser Veränderung ist Thomas Manns Schrift Ein Briefwechsel vom Januar 1937.
Stefan Zweig - ein scharfsichtiger Fatalist
Der Brief Stefan Zweigs an Romain Rolland vom 16. Februar 138 zeigt, dass Zweig ein scharfsichtiger Beobachter ist, der den Verlauf der kommenden politischen Entwicklung mit erstaunlicher Prägnanz antizipiert, aufgrund seiner Persönlichkeitsstruktur aber außerstande ist, in den aktuellen politischen Grabenkämpfen Stellung zu beziehen.
Brief von Max Mayer vom 9. Mai 1938
Die Taufe seines Enkelsohns ist für den in Freiburg lebenden jüdischen Kaufmann Max Mayer der Anstoß, sich in einem fiktiven Brief über sein Selbstverständnis als Jude und über das Institut der "jüdischen Großmutter" im Rahmes des obligatorischen "Ahnenpasses" zu äußern. Der Brief ist ein Zeugnis der klassischen literarischen Briefkultur.
Anna Seghers: "Das siebte Kreuz" - eine Programmschrift der "Hoffnung"
Der Roman setzt an einem Tiefpunkt der politischen Entwicklung an. Aus der Perspektive äußerster „Verzweiflung“ im Sinne Kierkegaard thematisiert Anna Seghers am Beispiel der Flucht von sieben Häftlingen aus einem KZ den Übergang von der „Verzweiflung“ zur „Hoffnung“.
2. Das Krisenjahr 1938
Hegemonialpolitik, Krise des Exils, die Lage der jüdischen Bevölkerungsgruppe in Deutschland und der "Anschluss" Österreichs
Paul Martin Neurath: "Die Gesellschaft des Terrors"
1943 verfasst Paul Martin Neurath, Mitglied des "Prominententrans-ports", des ersten Häftlingstransports nach dem "Anschluss", und KZ-Häftling in Dachau und Buchenwald, in New York eine Dissertation, die 2004 in deutscher Übersetzung veröffentlicht wird. Es ist der erste Versuch, mit dem Instrumentarium der Soziologie das KZ, die Sphäre der "absoluten Macht" (Wolfgang Sofsky), zu beschreiben.
Schubert/Siegelberg: "Die Masken fallen" - Ruth Maier: Tagebuch September - Dezember 1938
Abschied von Österreich - Ernst Krenek: "Im Atem der Zeit"
"Im Atem der Zeit" ist eine "Exilautobiographie" mit den typischen Merkmalen dieses Genres: der zeitlichen Trennung in die Phase "vor" und "nach" der Exilierung, der kunstvoll-emphatischen Darstellung des "Abschieds von Österreich" und der Klage über das "düstere" Leben in den USA, einem Land "ohne Kultur". "Im Atem der Zeit" ist ein narzisstischer Text voller Invektiven und Selbstentblößungen. Er zeigt die unbekannte, reaktionäre Seite eines musikalischen Avantgardisten.